Perikles: DAS GOLDENE ZEITALTER ATHENS
431 v. Chr. / Perikles
DAS GOLDENE ZEITALTER ATHENS
Mit politischen Prozessen und großartigen Reden, mit Kriegen und Klientelpolitik wird der Staatsmann Perikles mächtig – und mit einem Bauprogramm, das unter anderem die Akropolis in ein architektonisches Schatzhaus verwandelt. Doch 431 v. Chr. führt er Athen in den Peloponnesischen Krieg gegen Sparta. Nun muss die Stadt, in der die Demokratie erfunden worden ist, um ihre Existenz kämpfen

Athen, im Frühjahr 430 v. Chr.: Der Tod ist in der Stadt, und ein Gott hat ihn gebracht.
Dabei haben die Bürger doch den Unsterblichen Monumente errichtet wie nirgendwo in Griechenland: Auf dem schroffen Felsplateau der Akropolis schimmert der helle Marmor des Parthenon, des Hauses der Athena Parthenos, der „Jungfräulichen“, deren elfenbeinernes Standbild hier, zwölf Meter hoch und überzogen mit zehn Kilogramm Blattgold, über Attika blickt.
Zu Füßen des Felsens, auf der von Platanen gesäumten Agora, dem bedeutendsten Markt der hellenischen Welt, opfern Priester auf dem Altar der Zwölf Götter. Auf dem Hang dahinter erhebt sich der prächtige Tempel des Hephaistos, des Gottes der Schmiede. Und ein paar hundert Meter weiter, versteckt hinter einigen Hügelrücken, wächst seit einem Jahrhundert das Heiligtum des olympischen Zeus heran, ein Haus für den Göttervater, das einmal von 104 rund 17 Meter hohen Säulen geschmückt werden soll.
Alles vergebens.
Denn die Menschen – 100000 mögen es sein – leben in Griechenlands größter Stadt längst nicht so prachtvoll wie ihre Götter. Die Häuser sind klein: ein oder zwei Geschosse hoch, ein paar Räume nur um einen oder zwei Innenhöfe, getrennt in Bereiche für Männer, Frauen, Sklaven, dazu Werkstätten und Läden. Dazwischen Abortgruben, ungepflasterte Gassen und Plätze – und keine Kanalisation. Sklaven leeren die Gruben und schaffen den Unrat vor die Stadt.
Nun wagen sie nicht mehr, die Gemeinde zu verlassen – so wenig wie alle anderen Bewohner Athens. Zwar schützen mächtige Mauern die Stadt in Form eines unregelmäßigen, dem zerklüfteten Gelände angepassten Vielecks. Und hohe Steinwälle verbinden Athen mit seinem sieben Kilometer entfernten Hafen am Piräus, den dortigen Magazinen, Schiffshäusern und der Flotte der 100 Trieren.
Aber vor den Mauern, in Attika, steht das Heer der Spartaner. Die Feinde brennen Bauernhöfe nieder, mähen das Getreide, zerhacken die Olivenbäume, töten das Vieh. Die Bauern sind aus den Dörfern Attikas nach Athen geflohen, in die prachtvolle, enge, stinkende Metropole.
Tausende sind es. Manche kommen bei Freunden oder Verwandten unter, drängen sich in die bescheidenen Häuser. Die meisten jedoch lagern auf den Plätzen, in den Türmen der Stadtmauer, zwischen den Säulen der Tempel, zusammen mit Ziegen, Schafen, Rindern, Hunden, die sie haben retten können.
Die Spartaner haben, ehe der Krieg begann, eine Gesandtschaft zum Orakel nach Delphi geschickt. Apollon werde auf ihrer Seite kämpfen, ist ihnen dort geweissagt worden. Zunächst mag es nicht so ausgesehen haben, denn obwohl sie Attika verwüsten konnten, scheiterte die spartanische Phalanx immer wieder an den Festungen, hinter denen sich Athen verschanzt hat.
Doch dann brach hinter den Mauern die Seuche aus.
Der rächende Gott ist in Athen. Zunächst im Piräus, bald überall werden die Menschen krank. Die Seuche befällt Männer und Frauen, Starke und Schwache „ganz plötzlich bei voller Gesundheit, zuerst starke Hitze im Kopf, Röte und Entzündungen der Augen, und innen, Schlund und Zunge, war alles gleich blutigrot, der ausströmende Atem war sonderbar und übel riechend“.
Der Mann, der all diese Symptome viele Jahre später beschreiben wird, ist ein etwa 30 Jahre alter Adeliger aus der Sippe der Philaiden namens Thukydides. Er ist Augenzeuge der Krankheit – und eines ihrer Opfer. Nach dem Fieber, berichtet er, kommt „starker Husten“, dann winden sich die Kranken unter „allen möglichen Gallenentleerungen“ in Magenkrämpfen. Durst peinigt sie, viele stürzen sich, halb besinnungslos vor Qual, in die Brunnen.
Geschwüre überziehen die Haut der Kranken, sodass selbst der Druck leichter Gewänder Schmerzen verursacht. Wer nicht nach ein paar Tagen am Fieber oder an Entkräftung stirbt, bei dem frisst sich die Krankheit noch tiefer in den Körper. Manchem fallen Finger oder Zehen ab, andere verlieren ihr Augenlicht, wieder andere erwachen, körperlich genesend, doch können sie sich „an nichts mehr erinnern“ und kennen „sich und ihre Verwandten nicht mehr“.
So schrecklich ist die Seuche, so hilflos sind die Ärzte, dass viele Kranke allein in den Tod gehen. Sterbende und Leichen liegen auf den Gassen, in verlassenen Häusern, sogar in den Tempeln. Wer noch hilft – nicht aus Mitleid, sondern aus Scham, sonst als Feigling zu gelten –, der entledigt sich hastig seiner Pflicht. Wer für einen Angehörigen den Scheiterhaufen aufschichtet, der muss erleben, wie Unbekannte kommen, ihre Toten aufs Holz werfen und dies sogleich anzünden; andere werfen Leichen auf bereits brennende Stapel. Selbst die Vögel und streunenden Hunde meiden die unbestatteten Leichen, und wer doch von diesen frisst, stirbt ebenso wie die Menschen.
Monatelang beherrscht die Krankheit Athen. Niemand kennt die Zahl der Toten, doch 20000 werden es wohl gewesen sein. Mindestens 4400 Bürgersoldaten und 300 Adelige sterben – mehr, als die Stadt je in einer Schlacht verloren hat.
Nach so einem Blutzoll und der Verwüstung ihres Bauernlandes wären die Menschen, soll man meinen, zum Frieden geneigt. Doch der Krieg der Athener gegen die Spartaner – den man später den Peloponnesischen nennt – wütet nach der Seuche noch weitere 26 Jahre lang. Er sucht Griechenland heim, aber auch viele Inseln des östlichen Mittelmeeres, die kleinasiatische Küste und sogar Sizilien, er reibt Spartas Macht auf und vernichtet die von Athen. Und er beendet die wohl glänzendste Epoche griechischer Geschichte.
Thukydides, der junge Adelige, übersteht die Seuche. Er kämpft in diesem Konflikt mit – und er scheitert darin. Er wird darüber zum Chronisten dieses Krieges, zum vielleicht größten Historiker der Antike. Und er setzt jenem Mann ein literarisches Denkmal, der Athen zunächst auf den Gipfelpunkt seiner Macht führt und danach in den Untergang: Perikles aus dem Geschlecht der Alkmeoniden.
THUKYDIDES WIRD UM 460 V. CHR. geboren. Miltiades, der Sieger im Kampf gegen die Perser, ist einer seiner Ahnen: Die Schlacht von Marathon (siehe Seite 28) ist, schon halb legendär ausgeschmückt, eine der ersten Geschichten, die Thukydides erzählt werden. Athen ist Griechenlands Metropole, vibrierend vor Selbstvertrauen, Reichtum, Macht.
Die Perser sind von den Küsten der Ägäis verdrängt, Athen beherrscht das östliche Mittelmeer. Sein Seebund, einst zum Schutz vor dem persischen Großkönig geschlossen, ist zum maritimen Reich geworden, die Stadt in Attika ihr Hegemon. Über 100 poleis haben geschworen, stets „denselben Feind und denselben Freund“ zu haben wie Athen; dazu haben ihre Gesandten Metallklumpen ins Meer geworfen. Jeder Vertrag solle gelten, solange die nicht wieder aus den Wellen auftauchen.
Ein höchst ungleiches Bündnis. Jede Polis schließt den Pakt mit Athen ab, nicht alle Städte untereinander. In wichtigen Streitfällen entscheiden Athener Gerichte. Nur wenige Bundesgenossen – die Insel Samos etwa – können Trieren für die gemeinsame Flotte stellen, auf der die Macht dieser Vereinigung beruht, die meisten müssen Tribut zahlen.
Zwar wird die Bundeskasse zunächst auf der Insel Delos eingerichtet, weshalb dieses Imperium „Delisch-Attischer Seebund“ genannt wird. Doch es ist Athens Volksversammlung, die über die Höhe der Tribute – 460 Talente Silber im Jahr insgesamt – bestimmt.
Es sind Beamte aus Athen, welche die Kasse verwalten, es sind Athens Abgesandte, die in den anderen Poleis eine ihrer Stadt genehme Politik überwachen, es ist Athens Flotte, die bei Widersetzlichkeiten aufkreuzt, Geiseln nimmt, die Wälle schleifen lässt oder gar das Gebiet unbotmäßiger Verbündeter erobert. Die „Athener und ihre Bundesgenossen“ wird dieses Seereich deshalb in Griechenland genannt – und freundlich ist dies nicht gemeint.
Was aber sollen die Bundesgenossen unternehmen? Athen beherrscht mit seiner Flotte – von März bis Oktober sind stets mindestens 60 Athener Trieren mit 12000 Mann auf hoher See – und mit Garnisonen die Stadt Naupaktos und damit die Zufahrt zum Golf von Korinth. Es beherrscht die Häfen Pagai und Nisaia und hat damit Zugang zum Saronischen und zum Korinthischen Golf. Es beherrscht Byzanz und den Zugang zum Schwarzen Meer und den Getreidelieferungen von dort. Es greift Zypern an und sogar Unterägypten mit Memphis, der alten Hauptstadt der Pharaonen.
Und als die Bundesversammlung im Jahr 454 v. Chr. beschließt, die Kasse von Delos auf die Athener Akropolis zu überführen, kann sich keine Polis wehren. Fünf Jahre darauf entzieht Athen seinen Verbündeten gar das Münzrecht; fortan sind nur noch die mit der Eule verzierten Silberlinge Athens das gültige Zahlungsmittel.
NICHT NUR NACH AUSSEN festigt Athen seine Macht – auch die inneren Verhältnisse stabilisieren sich. Die Demokratie mit ihren Volksversammlungen, Abstimmungen, Ratssitzungen, Prozessen und Losverfahren wird von der historischen Ausnahme zur Selbstverständlichkeit. Demokratia als Begriff kommt in den Jugendjahren des Thukydides auf.
Ursprünglich war das wohl einst eine abfällige Bezeichnung, die Adelige verwendeten und die für „Pöbelherrschaft“ stand. Doch nun führen die Athener dies als Ehrentitel: „Volksherrschaft“. Im Jahr 462 oder 461 v. Chr. ist eines der letzten Adelsprivilegien gefallen: Dem Areopag, dem Rat der Adeligen, wurde die Aufsicht über die Beamten entzogen; fortan sind diese nur noch dem Rat der 500 verantwortlich, der höchsten demokratischen Instanz Athens.
Einer der Männer, die den Areopag, dieses Relikt der Adelsherrschaft, zerschlagen, entstammt selbst einer der mächtigsten Adelsfamilien Athens: Perikles.
Seine Mutter, so lässt Perikles viel später verbreiten, habe wenige Tage vor ihrer Niederkunft geträumt, einen Löwen zu gebären. Jenes Tier, das „Stärke, große Taten, Sieg und Herrschaft“ symbolisiere. Dem viele antike Traumdeuter aber seit jeher auch noch anderes zuweisen: Krankheit und Gefahr.
Und tatsächlich wird das Leben des Perikles wie keines seiner Zeitgenossen oszillieren zwischen Ruhm und Hass, Allmacht und Hilflosigkeit, Glanz und Katastrophe.
Er wird kurz nach dem Jahr 500 v. Chr. geboren. Sein Vater ist ein siegreicher Feldherr im Perserkrieg, seine Mutter eine Nichte des Staatsmannes Kleisthenes. 472 v. Chr. tritt der junge Adelige erstmals in der Öffentlichkeit auf: Er ist Chorege bei den Dionysien – derjenige, der mit seinem Vermögen den Chor einer Tragödie bei dem alljährlichen Dramenwettbewerb am Fuße der Akropolis finanziert. Perikles kommt für „Perser“ des Aischylos auf (siehe Seite 68). Und kann sich, als dieses Stück die Dionysien gewinnt, mit dem Dichter den Ruhm teilen.
Ansonsten soll Perikles, das zumindest überliefert ein halbes Jahrtausend nach dieser Zeit der antike Biograph Plutarch, die Öffentlichkeit gemieden, ja das Volk von Athen gefürchtet haben. Denn er, Perikles, gleiche im Äußeren, in seiner Sprechweise, in seiner adeligen Abkunft dem Peisistratos, dem ehemaligen Tyrannen der Stadt. Das, so glaubt er, reiche bereits aus, ihn verhasst zu machen, ihn anzuklagen, ihn ins Exil zu zwingen.
Wenn dies tatsächlich so gewesen ist, dann muss Perikles irgendwann gelernt haben, sich dem Volk zu stellen, ja das Spiel mit ihm und mit der Macht zu lieben. Denn zwischen 461 und 451 v. Chr. – „dem geheimnisvollsten Jahrzehnt im Leben des Politikers Perikles“, wie es ein moderner Historiker ausdrückt – greift er zur Macht und wird sie zwei Jahrzehnte lang halten, länger als jeder andere Volksführer in der notorisch unberechenbaren Demokratie.
Einen Demagogen wird ihn, ein Jahrhundert später, der Philosoph Aristoteles schimpfen. „So war es dem Namen nach Demokratie, in Wirklichkeit aber Herrschaft des ersten Mannes“, wird dagegen Thukydides später bewundernd schreiben.
Perikles jedenfalls gehört, wenn auch noch nicht an führender Stelle, zu jenen Politikern, die den Areopag zugunsten des Rates der 500 entmachten. Sechs Jahre darauf wird er erstmals zum Strategen gewählt und führt einen Feldzug gegen die nordpeloponnesische Stadt Sikyon.
Seinen Durchbruch aber inszeniert er mit einem fremdenfeindlichen Gesetz.
IM JAHR 451 V. CHR. beschließt die Volksversammlung auf seinen Antrag hin, „niemand solle das Bürgerrecht genießen, dessen Eltern nicht beide Bürger der Polis“ sind.
Das sichert Perikles auf einen Schlag eine arme, aber zahlreiche Klientel. Denn Athen, wiewohl wegen seiner Außenpolitik in Griechenland verhasst, ist doch zum bedeutendsten Anziehungspunkt der hellenischen Welt geworden.
Aus vielen Poleis strömen sie in die Stadt: Handwerker, die Trieren oder Häuser bauen wollen; Künstler, die Aufträge für neue Tempel und Kultstatuen erhoffen; Abenteurer und Mittellose, die sich als Ruderer oder Lastenträger verdingen wollen. Sie alle machen den Einheimischen Konkurrenz. Dank großzügiger Ehegesetze können sie zudem hoffen, möglicherweise schon für sich, zumindest aber für ihre Kinder das Bürgerrecht zu erlangen.
Perikles gibt mit seinem Antrag dem Unmut der Athener Kleinhändler, Handwerker und Tagelöhner ein Ziel. Sie, die zwar arm sind, aber in der Stadt oder im Piräus leben und deshalb überproportional an der stets in Athens Zentrum tagenden Volksversammlung teilnehmen, profitieren am meisten von diesem Schlag gegen die neu eingewanderten Rivalen.
Perikles hat damit das attische Bürgerrecht neu definiert. Diese Regeln gelten offenbar auch rückwirkend – was die Vorlage erst zur perfiden Waffe macht: Wer den Kriterien nicht entspricht, also nicht zwei athenische Elternteile hat, gilt fortan als jemand, der sich unrechtmäßig in die Bürgerliste eingeschlichen hat und zur Strafe in die Sklaverei verkauft werden darf.
Das ist nichts anderes als eine Aufforderung zum Denunziantentum.
Ein antiker Historiker vermerkt, sechs Jahre darauf seien durch das perikleische Gesetz 4760 Athener in die Sklaverei verkauft worden – möglicherweise eine übertriebene Zahl, vielleicht aber auch nicht. Denn fortan gilt Perikles, gestützt auf seine Popularität in der Volksversammlung, als mächtiger Mann. Es ist gefährlich, ihm im Weg zu stehen.
Perikles scheint, auch wenn die historischen Quellen da vage sind, ein Meister zu sein in den Machtkämpfen der Demokratie, im Ringen vor und hinter den Kulissen. Niemals scheint er die Tyrannis zu erstreben, niemals bekleidet er eines der neun Archonten-Ämter, der nominell höchsten in der Polis. Doch von 443 v. Chr. bis zu seinem Tod wird er praktisch ununterbrochen zum Strategen gewählt. Und als solcher kann er Feldzüge befehligen, am Rat der 500 teilnehmen, die Volksversammlung einberufen.
Zehn Strategen werden jährlich gewählt – also selbst in diesem Amt ist Perikles stets nur einer unter Gleichen. Doch was ihn auszeichnet, das ist seine Rednergabe in der Volksversammlung, sein Charisma, das andere dazu bringt, für ihn zu stimmen, sein Gespür für eine Politik, die von der Mehrheit gewünscht wird.
Kurz: Perikles weiß besser als seine Zeitgenossen, was das Volk von Athen will und wie man dies durchsetzen kann.
Zudem erkennt er, dass mindestens ebenso wichtig wie die reine Interessenpolitik – etwa im Sinne der Athener Armen gegen die Neueinwanderer – die große Geste ist, die öffentliche Zurschaustellung demokratischer Macht. Und vielleicht verdankt Perikles seine Stellung vor allem seinem Entschluss, den Athenern handgreiflich – in Marmor und Gold – zu demonstrieren, wie großartig sie sind.
IM JAHR 448 V. CHR. startet eines der ehrgeizigsten und bestorganisierten Bauprogramme der Antike. Die Akropolis, der schroffe Felsen im Zentrum Athens, ist seit der Invasion der Perser von den Ruinen zerstörter Tempel bedeckt. Nun soll er wieder geschmückt werden, prachtvoller als irgendwo sonst.
Die Volksversammlung beschließt, auf der Akropolis Bauwerke zu errichten, sie genehmigt die notwendigen Mittel, sie stimmt darüber ab, welche Künstler auszuwählen sind. Die treibende Kraft, der geistige Vater dieses Programms, ist Perikles – das berichtet zumindest Plutarch. Denn die Volksversammlung wählt aus ihrer Mitte einige epistatai – Finanzkontrolleure, die offiziell über die korrekte Ausführung der beschlossenen Arbeiten wachen sollen, tatsächlich aber wohl die eigentlichen politisch Verantwortlichen sind. Der mächtigste von ihnen: Perikles.
Der Künstler Phidias wird mit der Leitung der Arbeiten beauftragt, denn da auf dem felsigen Plateau mehrere Bauwerke errichtet werden sollen, muss ein Gesamtkonzept erstellt werden. Phidias selbst entwirft die über zwölf Meter hohe Statue der Athena, der Schutzpatronin der Stadt.
Sie steht im Zentrum des Parthenon, des monumentalsten und aufwendigsten, in vielerlei Hinsicht erstaunlichsten Bauwerks des klassischen Griechenland. Die Architekten Iktinos und Kallikrates nehmen sich für den Bau des Parthenon dorische Tempel zum Vorbild. Doch statt der zumeist sechs Säulen für die Front wählen sie acht; auch stehen die Säulen enger beieinander als üblich und sind mit 20, nicht mit 16 Kanneluren profiliert. So schaffen sie ein Bauwerk, das viel größer ist als seine Vorbilder, aber dennoch deren Anmutung beibehält.
Dahohe Säulen, betrachtet aus der Nähe, oben auseinander zu streben scheinen, gleichen die beiden Baumeister diese optische Täuschung durch architektonische Einfälle aus – durch Tricks, die zuvor detailliert berechnet worden sein müssen: Die Säulen etwa sind nicht zylinderförmig, sondern bauchig, und zwar so, dass ihre breiteste Stelle knapp unterhalb ihrer halben Höhe liegt. Das Podest, der Unterbau des Gebäudes, ist zudem nicht eben, sondern steigt an jeder Seite zur Mitte hin um einige Zentimeter an.
Skulpturen schmücken den Parthenon: Im Giebel der Ostseite verherrlichen die Künstler die Geburt der Athena aus dem Kopf ihres Vaters Zeus, am gegenüberliegenden Ende feiert die Göttin ihren Sieg im Wettstreit mit dem Meeresgott Poseidon um die Schutzherrschaft über Athen. Andere Bildwerke an den Außenseiten stellen die mythischen Siege der olympischen Götter über die Giganten dar, und die der Griechen über die Trojaner, die Amazonen und die Kentauren.
Um die Cella – die im Innern des Parthenon wie eine steinerne Halle das Kultbild der Athena umschließt – zelebrieren die Athener sich selbst. Ein 160 Meter langes, ein Meter hohes und bis zu sechs Zentimeter starkes Relief zeigt die Bürger bei den Panathenäen, dem festlichen Umzug zu Ehren der Göttin.
Nach nur 15 Jahren Bauzeit ist das Wunder vollendet: ein Block aus weißem pentelischem Marmor, den die Morgen- und die Abendsonne gelb färbt, dann rosafarben, ein Meisterwerk der rechten Proportion, ein gigantisches Spiel aus Licht und Schatten, zu sehen schon von Bord der Trieren, welche das Kap Sunion umsegeln. Ein Schatzhaus der Polis, denn die Kasse mit dem Tributsilber des Seebundes wird fortan hier aufbewahrt. Eine Inszenierung der Geschichte, des Ruhms, des Reichtums Athens und seiner Bürger – und zwar jener Generation, die sich mit diesem Bau schmückt. Plutarch überliefert gar, dass auf dem reliefgeschmückten Schild der Athena die Gesichtszüge sowohl des Phidias als auch des Perikles verewigt seien.
Nur eines ist der Parthenon nicht: ein Tempel. Ein Altar, vor dem man opfern könnte, fehlt. Der Parthenon soll nichts anderes sein als das Denkmal athenischer Pracht. „Mit sichtbaren Zeichen, wahrlich nicht ohne Zeugen, entfalten wir unsere Macht, in Gegenwart und Zukunft uns zum Ruhme“, zitiert Thukydides eine Rede des Perikles. „Wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten.“
Und der Parthenon wächst nicht allein empor. Zur gleichen Zeit, da von dort Baulärm und Marmorstaub über die Akropolis wehen, werden auch die Propyläen erbaut, jenes reich verzierte Torhaus, das den Zugang zum Felsen schmückt. Zudem das Odeion und das Dionysos-Theater am Fuße des Felsens. Und dann der Tempel des Hephaistos, mehrere Stoen auf der Agora, Getreidespeicher, Säulenhöfe, Bäder in der Stadt, Schiffshäuser am Piräus, eine neue Stadtmauer.
„Als so die Bauten emporwuchsen in ihrer stolzen Größe, unnachahmlich in dem Reiz ihrer Formen“, berichtet Plutarch, „als die Handwerker wetteiferten, das Handwerk zur Kunst emporzuheben, da war doch das Wunderbarste die Schnelligkeit.“
Wunderbar auch sind die Verdienstmöglichkeiten. „Was man brauchte“, schreibt Plutarch an anderer Stelle, „waren Steine, Erz, Elfenbein, Gold, Zypressen- und Ebenholz. Zu deren Bearbeitung gehörten Arbeiter, wie Zimmerleute, Bildhauer, Kupferschmiede, Steinmetzen, Färber, Goldarbeiter, Elfenbeinarbeiter, Maler, Sticker und Bildschnitzer; für den Transport brauchte man zur See Kaufleute, Matrosen, Schiffsführer, zu Lande Wagenbauer, Pferdehalter, Fuhrleute, Seiler, Leineweber, Sattler, Straßenbauer und Bergleute.“
So sind der Parthenon und die anderen Bauten auch dies: ein gigantisches Wirtschaftsförderungsprogramm, von dem reiche Reeder ebenso profitieren wie arme Tagelöhner. Und das wiederum sichert jenem Politiker, der dafür verantwortlich ist, eine dankbare Gefolgschaft: Perikles.
Doch zu welchem Preis? Da Architekten und Künstler der Volksversammlung verantwortlich sind, lässt diese (bis heute erhaltene) Marmortafeln aufstellen, in denen jeder einzelne Posten aufgezählt wird. Honorar für den Architekten: eine Drachme pro Tag. Honorar für den Bildhauer einer Skulptur am Fries: 60 Drachmen. Honorar für die Kannellierung einer Säule: 350 Drachmen.
Allein im Parthenon werden rund 30000 Tonnen Marmor verbaut, vom schweren Block bis zum feinsten Relief. Und da der Bau wegen seiner architektonischen Tricks als gigantische optische Täuschung entworfen worden ist, muss jedes einzelne Teil millimetergenau behauen werden. 1500 Talente kostet der Parthenon: das Dreifache dessen, was die Polis Athen – durch die Verpachtung der Silberminen von Laureion, Gerichtsgebühren, Zölle oder Steuern – jährlich einnimmt.
Um das Jahr 450 v. Chr. lagern in den Schatzhäusern der Stadt 9700 Talente, die Summe eigener Einnahmen und der Tribute der Verbündeten. Zwei vergleichsweise friedliche Jahrzehnte später ist mehr als ein Drittel dieses gewaltigen Schatzes verschwunden, ausgegeben vor allem für die Prunkbauten Athens.
Deshalb ist es ausgerechnet der prächtige Parthenon, der dem Politiker Perikles erstmals gefährlich wird. Ihn womöglich sogar in eine Lage bringt, aus der er sich nur noch mit einer rücksichtslosen, zynischen Entscheidung wieder befreien kann.
ATHEN IST EINE DEMOKRATIE, doch Parteien gibt es dort nicht. Stets sind es Einzelne, die sich durch Charisma, Rednergabe oder Wohlstand auszeichnen und Anhänger um sich scharen. Gemeinsame Ideologien sind diesen eher losen Gruppierungen unbekannt. Allgemein verbreitet ist nur der Glaube an die Götter, mögen ihnen auch manche Bürger mehr Macht zusprechen als andere. Und die Überzeugung von der Einzigartigkeit Athens, von dem Recht dieser Polis, Macht auszuüben und Tribute einzutreiben, wird wohl von allen geteilt.
Die politischen Kämpfe Athens sind also vor allem reine Machtkämpfe. Sind kein Ringen darum, welche Politik gemacht wird, sondern wer diese Politik exekutiert. Und gerade dies gibt der Demokratie eine existenzbedrohende Gefährlichkeit.
Denn die Volksversammlung ist nicht nur die Arena für Debatten und Abstimmungen, sondern, einmal im Jahr, auch ein besonderer Gerichtshof. Seit 487 v. Chr. ist der ostrakismos, das Scherbengericht, eine der schärfsten Waffen im politischen Kampf. Eine Institution, die angeblich schon von Kleisthenes eingeführt worden und ohne Vorbild und ohne Nachfolger in der Geschichte geblieben ist.
Im Januar 443 v. Chr. stellt sich Perikles dem Scherbengericht. Es geht um alles oder nichts.
Thukydides Melesiu (nicht verwandt mit dem Historiker Thukydides) ist sein größter Rivale. Adelig auch er, doch konservativer, vorsichtiger, dem Volk gegenüber auch misstrauischer. Thukydides Melesiu ist, sofern man den wenigen historischen Quellen trauen kann, außenpolitisch zurückhaltender, will die Tribute innerhalb des Seebunds weniger rücksichtslos eintreiben, will eine insgesamt weniger aggressive Politik verfolgen. Er warnt vor den immensen Kosten der perikleischen Bauprojekte. Vor allem aber stört er sich wohl an der herausgehobenen Stellung des Perikles, an dessen Macht und Ruhm.
Im Januar 443 v. Chr. stimmt die Volksversammlung – wie jedes Jahr seit mehr als vier Dekaden – darüber ab, ob sie ein Scherbengericht halten soll. Die Fragen sind stets die gleichen: Vermuten die Bürger, dass es in Athen Männer gibt, welche der Polis gefährlich geworden sind? Und falls ja: Wer soll dies sein?
Dieser Vorgang ist historisch einmalig: ein prophylaktischer politischer Prozess. Vermutet die Mehrheit der Bürger, dass einer aus ihrer Mitte dem Staat gefährlich werden könnte – könnte, er muss noch nichts angestellt haben –, dann kann sie ihn verurteilen. Der Betreffende muss für zehn Jahre ins Exil und darf danach zurückkehren; er verliert weder Ehrenrechte noch Eigentum. Diese politische Auszeit kann die Volksversammlung über jeden allzu ehrgeizigen Athener verhängen.
In jenem Januar nun stimmt die Mehrheit mit „ja“ – und benennt sowohl Perikles als auch Thukydides Melesiu als mögliche Bedrohungen der Demokratie.
Jetzt haben beide Politiker gut zwei Monate Zeit, ihre Anhänger zu mobilisieren. Unbeweisbar, aber ziemlich wahrscheinlich ist, dass Perikles persönlich seinen Anhängern bedeutet hat, dass sie für ein Scherbengericht stimmen sollen. Denn im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte hat sich gezeigt, dass der Ostrakismos gegen alle Absichten nicht das Instrument dafür ist, den mächtigsten Mann in der Demokratie auszuschalten – sondern den zweitmächtigsten. Die mächtigsten Volksführer, die geschicktesten Demagogen, haben immer wieder ihre größten Rivalen per Abstimmung ins Exil schicken lassen. Genau dies hat Perikles vermutlich nun vor.
AN EINEM NICHT MEHR genau zu bestimmenden Tag im März oder April des Jahres 443 ist Gerichtstag. Das Volk strömt auf der Agora zusammen. Der Marktplatz ist mit Planken in zehn Bereiche eingeteilt. So ist es leichter, die Abstimmung der Abertausende zu organisieren. Denn diesmal zeigen sie ihre Meinung nicht wie sonst per Handzeichen an, sondern schriftlich und geheim.
Jeder Bürger hat von zu Hause eine Tonscherbe, ein ostrakon, mitgebracht. Zerbrochene Keramik – die Splitter irgendeines Topfes, einer Schüssel oder einer Vase – hat praktisch jeder in seinem Haus. Alle anderen Schreibmaterialien – Papyrusrollen, Wachstafeln, Holz-, Metall- oder Steinplatten – wären für die Mehrheit der Bürger zu teuer.
In den Tonrest ritzt jeder den Namen desjenigen ein, den er an diesem Tag verurteilen will. (Eine Scherbe mit dem Verdikt gegen „Perikles, Sohn des Xanthippos“ werden Archäologen fast zweieinhalb Jahrtausende später im Schutt der Agora entdecken.) Wer nicht schreiben kann, der bittet einen Nachbarn oder einen der Staatsbeamten, den Namen einzuritzen.
Seit dem frühen Morgen strömen nun Männer aus Athen, aus dem Piräus, Bauern und Fischer aus ganz Attika auf die Agora, kontrolliert von Beamten, überwacht von Staatssklaven, die, Polizisten gleich, dafür sorgen, dass beim Geschiebe in der Menge keine Unruhe entsteht.
Kleine und große Scherben landen in den Töpfen der Beamten. Allenfalls daran, dass manche Keramikreste nicht verziert sind, andere dagegen immer noch prachtvolle Glasuren erkennen lassen, unterscheiden sich die Stimmen von Arm und Reich.
Dann, wahrscheinlich am Nachmittag desselben Tages, zählen die Beamten aus. Nach ein paar Stunden steht fest: Auf den meisten Scherben steht der Name des Thukydides Melesiu.
Binnen zehn Tagen muss der nun seine Sachen zusammenpacken und Athen verlassen. Zehn Jahre lang wird er seine Heimat nicht wiedersehen. Perikles ist den Rivalen los.
Er führt seine aufwendige Politik weiter fort, inszeniert sich nun auch selbst. Denn dies ist für ehrgeizige Männer ein weiterer Vorteil der Demokratie: Sie haben ein aufmerksames Publikum.
Perikles verbreitet Legenden über sich, die ihn ins Heroische erheben – etwa die vom Löwentraum seiner Mutter. Er lässt Büsten von sich aufstellen. Er ist zudem Zeitgenosse von Künstlern wie Phidias, Dichtern wie Aischylos, Sophokles, Euripides, von Philosophen wie Anaxagoras. Es ist nicht beweisbar, dass alle diese Geistesgrößen Gäste seines Hauses, Gefolgsleute, gar Freunde sind. Doch ganz sicher fällt etwas von ihrem Glanz auch auf ihn.
Ohne Beispiel, geradezu unerhört schließlich ist die Rolle, welche die zweite Frau des Perikles spielt. Aspasia aus Milet ist mächtig und gebildet. In Athen, wo die Ehefrauen, die der Adeligen zumal, nur selten das Haus verlassen und so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit auftreten, hat sich nie zuvor eine Frau so offen in die Politik eingemischt wie sie.
Aspasia ist die Beraterin ihres Mannes in Fragen des Staates wie der Kunst. Sie führt einen literarischen Salon, zu dem die Philosophen Anaxagoras und Sophokles, ihre Schüler und – Skandal – auch deren Frauen geladen sind. Ihr gemeinsamer Sohn erlangt das Bürgerrecht – obwohl er doch gerade nach dem von Perikles selbst eingebrachten Gesetz kein Athener sein dürfte.
Selbstverständlich bleibt diese Pracht, ja diese Hybris nicht ohne Widerspruch. Seinen wichtigsten Gegner vor der Volksversammlung hat Perikles ausgeschaltet. Dort redet niemand von Bedeutung mehr gegen ihn, es käme auch politischem Selbstmord gleich. Doch jemand, der sich so sehr über seine Mitbürger erhebt, provoziert trotz aller Erfolge Neid und Hass – und nicht nur im Geheimen.
Der Spott mancher Komödiendichter hat die Jahrhunderte überdauert. „Da kommt der zwiebelförmige Zeus einherstolziert“, höhntetwa Kratinos und macht sich damit über den angeblich unförmigen Kopf des Perikles ebenso lustig wie über dessen herausgehobene Stellung, die dem des Göttervaters gleiche.
Andere werfen Perikles Feigheit vor. Oder: ein Weiberheld zu sein. Die Männer seiner Umgebung seien Speichellecker. Und seine Frau? „Dass sie seine Hera werde, gebar die Geilheit ihm ’ne hundeäugig freche Kebse (Geliebte)“, verbreitet Kratinos über Aspasia.
Perikles ist nicht amüsiert. Irgendwann in den Jahren 440 oder 439 v. Chr. bringt er ein neues Gesetz in die Volksversammlung ein: Fortan ist es verboten, Staatsmänner – und damit vor allem ihn – zu verspotten. Es ist, soweit bekannt, das erste Mal, dass sich die Demokratie selbst ein Zensurgesetz schafft.
Doch das erweist sich schnell als unbeliebt. Die Komödiendichter sind eben nicht nur politische Kritiker, sondern auch Unterhaltungskünstler. Nach vier Jahren hebt die Volksversammlung den Maulkorberlass wieder auf.
DAS BLEIBT NICHT die einzige politische Niederlage des Perikles. Möglicherweise verliert er im Alter an Energie und Aufmerksamkeit, möglicherweise wird er starrsinnig oder hochmütig nach so vielen Jahren des Erfolges, möglicherweise sind immer mehr Bürger die ununterbrochene Dominanz eines Mannes leid. Im Jahr 432 v. Chr. jedenfalls werden plötzlich kurz hintereinander drei seiner Gefolgsleute vor Gericht gestellt.
Reguläre Gerichtsverhandlungen sind, anders als beim Ostrakismos, keine Sache der Volksversammlung – wohl aber eine des Volkes. Berufsrichter gibt es nicht. Stattdessen werden zu Anfang eines jeden Jahres 6000 Bürger zu Richtern erlost. Jeder Athener erhält eine mehrzackige Tonmarke, die in eine komplizierte hölzerne Maschine gesteckt wird – eine Losmaschine.
Mit deren Hilfe werden 6000 dikastai ermittelt, Richter für ein Jahr, verteilt auf verschiedene Gerichtshöfe. Die Richter erhalten bronzene Plaketten mit ihrem Namen als Erkennungszeichen (viele Bürger sind auf dieses Amt so stolz, dass sie ihre Bronzeplakette mit ins Grab nehmen). An 150 bis 200 Tagen im Jahr sprechen sie Recht, der wichtigste Gerichtsplatz ist ein ummauerter Hof am Rand der Agora.
Für jede Sitzung werden die Richter durch eine weitere Losmaschine neu bestimmt. Kein Gericht ist kleiner als 201 Männer, manche sind sogar viele hundert Köpfe stark. Dies erschwert die Korruption der Richter. Zwei Obolen Lohn erhält jeder Richter pro Sitzungstag. Auch dies ein Gesetz, das Perikles einst eingebracht hat.
Bei so vielen Bürgerrichtern und ihrer von Perikles initiierten Besoldung sollte es eigentlich unmöglich sein, dass ein dem Staatsmann unpassendes Urteil gefällt wird.
Doch 432 v. Chr. wird der Philosoph Anaxagoras angeklagt – wegen „Gottlosigkeit“. Die historischen Spuren sind nach mehr als zwei Jahrtausenden teilweise verwischt, doch sieht es so aus, als wäre dies der Beginn einer sorgfältig organisierten politischen Attacke aus dem Hinterhalt gewesen. Ein Kreis von mächtigen, unzufriedenen Männern scheint sich vorgenommen zu haben, Perikles zu schwächen, indem er Menschen aus dessen engster Umgebung eliminiert. Gottlosigkeit immerhin ist ein Vorwurf, auf welchen die Todesstrafe steht.
Und Perikles? Der ist über den möglichen Urteilsausgang so unsicher, dass er seinem Freund rät, nachts aus Athen zu fliehen. Anaxagoras beherzigt den Rat – und wird in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Danach trifft es Aspasia.
Es ist wohl der Komödiendichter Hermippos, der ihr „Gottlosigkeit“ und „Kuppelei“ vorwirft. Gottlos sei sie, weil sie sich mit Philosophen wie Anaxagoras und Sokrates abgebe. Und eine Kupplerin, weil bei diesen Philosophentreffen Männer und Frauen gemeinsam teilnähmen.
Aspasia kann nicht heimlich aus der Stadt verschwinden, die Stellung des Perikles wäre sonst ruiniert. Bleibt sie aber und wird verurteilt, droht ihr die Hinrichtung. Perikles macht Stimmung im Volk, wohl durch Reden, durch persönliche Einladungen zu Gastmählern, vielleicht auch durch das eine oder andere Geschenk. Verhindern kann er den Prozess nicht.
Irgendwann im Verlauf dieses Jahres treffen sich ein paar hundert Dikasten, wahrscheinlich im Gericht auf der Agora. Aspasia ist dort – und Hermippos, der Komödiendichter, ihr offizieller Ankläger.
Der Dichter darf reden, eine Wasseruhr begrenzt seine Zeit. (Archäologen werden später zwei jeweils etwa 6,4 Liter fassende Krüge entdecken. Aus einem Loch läuft das Wasser vom höher in den tiefer gelegenen, so lange darf man vor Gericht reden: rund sechs Minuten.) Aspasia hat das Recht, verteidigt zu werden. Selbst reden darf sie nicht, sie ist eine Frau. Perikles hält das Plädoyer.
Nach diesen beiden Reden, noch ist der Prozess keine Viertelstunde alt, wird bereits das Urteil gefällt. Die Richter beraten sich nie, dafür sind es zu viele. Auch hier wird stattdessen abgestimmt.
Jeder Richter hat zwei Stimmscheiben, kleine Bronzeplatten mit quer gestellter Achse in der Mitte. Sie sehen aus wie Wagenräder im Miniaturformat. Wirft ein Richter die Stimmscheibe mit durchbohrter Achse in den Abstimmungsbehälter, so bedeutet dies, dass er die Angeklagte für schuldig hält; massive Achsen bedeuten „unschuldig“. Wer nicht will, dass die anderen sein Votum erkennen können, der hält die Stimmscheibe an ihrer Achse zwischen den Fingern, sodass niemand sehen kann, ob sie durchstoßen oder massiv ist.
Dann werden die Stimmen gezählt. Die Mehrheit ist für „unschuldig“ – eine knappe Mehrheit.
KAUM IST ASPASIA der Verurteilung entronnen, steht der Künstler Phidias vor Gericht. Er soll, das zumindest behauptet einer seiner Gehilfen, bei der Fertigung der Statue der Athena Gold unterschlagen haben. Möglicherweise wird er zudem wegen „Gottlosigkeit“ angeklagt, sicher überliefert ist dies nicht. Sollte dies aber der Fall sein, dann wäre es die für seinen Gönner Perikles gefährlichste der Anklagen. Denn „gottlos“ sei der Künstler deshalb, weil er das eigene Porträt auf dem Schild der Göttin verewigt habe – und genau dies, berichtet zumindest Plutarch, trifft ja auch für den Politiker zu.
Am Ende des Prozesses kontrollieren die Richter die Bronzeplatten – und zählen mehr durchbohrte als massive. Phidias wird verurteilt. Manche antike Chronisten sprechen von der Todesstrafe, doch moderne Forscher glauben, dass der Künstler noch in den zwanziger Jahren des fünften vorchristlichen Jahrhunderts am Tempel in Olympia gearbeitet hat – mindestens drei Jahre nach dem Prozess. So ist wohl ein anderer antiker Bericht glaubwürdiger, der überliefert, dass die Athener den Schöpfer ihres gewaltigsten Monuments unmittelbar nach dessen Vollendung in die Verbannung geschickt haben.
Und Perikles?
„Am Anfang war der Kunstskandal um Phidias, / als euer größter Künstler euer Land verließ“, dichtet, einige Jahre nach diesem Prozess, der Zeitgenosse Aristophanes, Athens größter Komödiendichter. „Und schon bekam es euer Führer Perikles / genauso mit der Angst zu tun / vor eurem Naturell und eurer biss’gen Art. / Um von sich selber abzulenken, rief er zum totalen Krieg.“
Bricht kurz darauf Griechenlands längster, schrecklichster Krieg nur deshalb aus, weil sich ein Athener Politiker von Rivalen bedrängt glaubt?
Tatsächlich spricht viel dafür, dass sich Perikles zunehmend bedroht sieht. Allerdings nicht nur persönlich, durch Rivalen, die seinen Sturz betreiben. Sondern auch in einem weiteren Sinne: Die gesamte Politik Athens, die er entscheidend prägt, treibt auf ein Desaster zu.
Welche Rolle etwa soll die Flotte noch spielen? Seit sich die Polis mit Persien geeinigt hat, könnte sie zur See ja abrüsten. Schließlich sind 60 Trieren und der Sold für 12000 Mann Besatzung teuer.
Doch 12000 Seeleute sind 12000 Wähler. Perikles, dessen Stellung sich wie die keines anderen Politikers seiner Zeit auf die Popularität beim einfachen Volk stützt, kann diese Männer nicht einfach abmustern.
So entdecken auch die Athener die zu allen Zeiten gültige Maxime: Eine teure Waffe, einmal angeschafft, erzwingt eine aggressive Politik. Denn wie könnte man die hohen Militärkosten sonst rechtfertigen?
Athen gründet seit etwa 448 v. Chr. kleruchiai. Das sind Pflanzstädte von bis zu 1000 Siedlern, die an strategisch wichtigen Stellen angelegt werden. Anders als die Kolonien der archaischen Zeit, die zu unabhängigen Poleis wurden, bleiben die Kleruchien integrale Bestandteile von Athen, ihre Einwohner behalten das dortige Bürgerrecht.
Die Athener siedeln unter anderem auf der Insel Euböa und in Amphipolis, das die Zugänge zu Goldbergwerken kontrolliert. Perikles führt persönlich im Jahr 447 v. Chr. 1000 Siedler zur thrakischen Chersones und zwölf Jahre darauf Kolonisten nach Sinope an die Küste des Schwarzen Meeres.
„Dies alles ordnete er an“, berichtet Plutarch, „um die Stadt von dem Haufen arbeitsloser und deswegen unruhiger Elemente zu befreien, der Not des Volkes zu steuern, die Bundesgenossen einzuschüchtern und ihre Aufruhrgelüste durch eine Art von Besatzung niederzuhalten.“
Eine perfekte Lösung für viele Probleme des Perikles: Indem er land- und arbeitslose Männer neue Städte in der Ferne bauen lässt, nimmt er sozialen Druck von Athen – und übt zugleich politisch-militärischen Druck auf die Verbündeten aus.
Denn die Bundesgenossen sind, wie er illusionslos erkennt, nicht mehr freiwillig auf Seiten Athens. Warum sollen sie hohe Tribute für eine Flotte bezahlen, die sie nicht mehr beschützt, sondern beherrscht? Weil sie, wie Perikles nüchtern folgert, von ebenjener Flotte dazu gezwungen werden – und weil das Volk von Athen, zufrieden durch den Reichtum des Seebundes, dies so verlangt.
Thukydides wird Jahre später eine Rede des Perikles zitieren. Womöglich hat der sie wörtlich so nie gehalten, denn niemand führt Protokoll, wenn Athens Politiker vor der Volksversammlung sprechen. Doch in ihrer brutalen Ehrlichkeit, in ihrem blanken Zynismus können diese Gedanken nur von Perikles stammen: „Eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt“, ruft da der Politiker den Athenern zu und meint deren Hegemonie im Seebund. „Sie zu ergreifen mag ungerecht scheinen, sie aber loszulassen ist lebensgefährlich.“
Perikles bemüht sich nicht einmal, die Herrschaft Athens moralisch zu legitimieren. Athens Dominanz ist ungerecht, manchmal brutal, ist reine Machtpolitik und sonst nichts. Kein Ideal begründet sie, sondern die Tatsache, dass die Athener besser sind als andere Griechen: „Hoher Sinn steht nur dem zu, der sich auch geistig seinem Gegner überlegen fühlt, und das trifft auf uns zu.“
Soll man aber eine Herrschaft, die ungerecht ist (aber eben auch so wundervoll profitabel), aufgeben? Niemals!, hämmert Perikles seinen Zuhörern ein. Denn ohne Gewalt würden die eben noch Verbündeten rebellieren und Athen bedrohen.
Athens Dominanz ist unmoralisch, doch das zählt nicht; wichtig ist allein, dass sie überhaupt ausgeübt werden kann. Allein die Existenz der Herrschaft, nicht deren Legitimation, erzwingt eine brutale Politik.
„Klientelpolitik“ wird man dies fast zweieinhalb Jahrtausende später nennen. Denn der Seebund nützt vor allem den Ruderern der Flotte, den Waffenschmieden und Werftarbeitern, den Reedern und Großhändlern, den landhungrigen Abenteurern.
Attikas Bauern aber, die als Hopliten in jedem Krieg noch immer das Gros der Landarmee zu stellen hätten, könnten auch mit einer milderen Herrschaft ihrer Stadt oder sogar ganz ohne Seebund leben – ebenso viele Adelige, die Verwandte in anderen Poleis haben.
AM ENDE STELLT Perikles die Interessen seiner Anhänger – und damit seine eigenen – über die der gesamten Polis.
„Außer Rand und Band, wolle sich das Volk wie ein wildes Pferd dem Zügel nicht mehr fügen, sondern beiße Euböa und bespringe die Inseln“, spottet ein anonymer Komödiendichter über die Athener und deren Anführer. Perikles betreibt mehrere Invasionen auf Euböa, lässt die Einwohner Hestiaias vertreiben, befehligt persönlich einen Feldzug gegen Samos.
Diese Insel, vor der kleinasiatischen Küste gelegen, ist einer der ältesten und wichtigsten Verbündeten Athens. In einer unbedeutenden Gebietsstreitigkeit zwischen Samos und Milet schlägt sich Athen auf die Seite Milets – und reagiert maßlos. Perikles lässt nach Kampf und Belagerung die Mauern von Samos schleifen; die Stadt verliert ihre Flotte und muss 1200 Talente Reparationen zahlen. Führende Männer werden hingerichtet oder ins Exil geschickt, samischen Kriegsgefangenen ein Zeichen in die Stirn gebrannt.
Athens Demokratie wird für seine Verbündeten zur Terror- und zur Willkürherrschaft. An Samos statuiert Perikles ein Exempel dafür, was es heißt, gegen Athen zu sein – und wohl auch gegen ihn persönlich. Denn Milet, zu dessen Gunsten Samos so viel leiden muss, ist die Heimat seiner Frau Aspasia.
Doch nackte Gewalt allein stabilisiert Athens Position irgendwann nicht mehr und damit auch nicht die des Perikles. Längst haben die Ereignisse eine Eigendynamik gewonnen, die nach immer neuen Aktionen, nach weiterer Eroberung verlangt. Die prächtigen Bauten, die imposante Flotte, die weitgespannten Kleruchien, die siegreichen Feldzüge: Alles das kostet viel Geld. Die Politik, so wie Perikles sie führt, ist bald nicht mehr zu finanzieren.
Wohl vor allem deshalb verfällt er dem Gedanken, sein Heil in einem neuen, im allgriechischen Krieg gegen Sparta und dessen Verbündeten zu sehen. Thukydides wird später, als erster Historiker der Geschichte, bei einem Krieg zwischen Anlass und tatsächlicher Ursache unterscheiden.
Die Anlässe häufen sich seit dem Jahr 433 v. Chr. Es sind zumeist Konflikte zwischen Poleis, von denen die eine mit Athen, die andere mit Sparta alliiert ist. Als das mit Sparta verbündete Theben die mit Athen alliierte Stadt Platäa überfällt, bricht im Jahr 431 v. Chr. der Peloponnesische Krieg aus. Die Ursache aber, der „wahre Grund“ für den Krieg sei, so Thukydides, im geradezu zwangsläufigen Zusammenprall der beiden griechischen Mächte zu suchen: in Spartas „Furcht, die Athener könnten allzu mächtig werden“.
Doch dies schreibt ein Anhänger des Perikles. Tatsächlich sind die Spartaner zögernd, ja widerwillig in den Krieg gegangen. Ihre Polis hat sich noch lange nicht von dem Erdbeben und dem Helotenaufstand des Jahres 464 erholt (siehe Seite 46). Die Verbündeten drängen zum Krieg und drohen mit Abfall, falls Sparta nicht endlich eingreift. Und selbst nach dem thebanischen Überfall auf Platäa, als Spartas Phalanx bereits an der Grenze zu Attika aufmarschiert ist, schickt einer der Spartanerkönige noch einmal einen Boten nach Athen, um Friedensverhandlungen anzubieten.
Doch Perikles lässt diesen Abgesandten nicht einmal reden. Vor der Volksversammlung setzt er durch, dass der Mann seine Botschaft nicht vortragen, ja mit niemandem in Athen sprechen dürfe. Unter Bewachung wird er zurück zur Grenze geschickt.
Denn eigentlich ist Perikles es, der den Krieg will.
Thukydides erwähnt es nur nebenbei, vielleicht hätte er es gern ganz verschwiegen: Zu den „Anlässen“ des Krieges zählt er auch, dass die bedeutende Stadt Megara plötzlich von allen Märkten des Attischen Seebundes ausgeschlossen wird. Weshalb? Thukydides lässt dies offen, einen glaubwürdigen Vorwand scheint es nicht zu geben. Dieser Handelsboykott jedoch würde Megara – einen der wichtigsten Verbündeten Spartas – ruinieren.
Will Sparta Athens Hegemonie nicht widerspruchslos akzeptieren, was undenkbar ist, muss es den Krieg erklären. „Nur um sich zu sichern, steckt’ er selber unsre Stadt in Brand, / warf hinein den kleinen Funken: das megarische Edikt“, wird Aristophanes zehn Jahre später in bitterem Spott über Perikles dichten.
Sparta hat nicht aus Furcht vor Athens weiterem Aufstieg und damit also präventiv den Krieg gesucht, sondern im Gegenteil den Kampf als letztes Mittel gesehen, als Perikles dem Rivalen nur noch die Wahl ließ zwischen Kampf oder Kapitulation.
SO BEKOMMT PERIKLES seinen Krieg, doch überleben wird er ihn nicht. 27 Jahre wird der Konflikt dauern, nur während der ersten beiden wird sich der Politiker noch an Macht und Leben klammern können.
Die Strategie des Perikles ist simpel und scheint zunächst sehr effektiv zu sein. Die Athener sollen der gefürchteten spartanischen Phalanx keine Schlacht bieten, sondern sich hinter die uneinnehmbaren Mauern ihrer Stadt zurückziehen. Mögen die Spartiaten doch Attika plündern – Athens überlegene Flotte läuft derweil aus dem Hafen und überfällt im Rücken der spartanischen Invasoren den Peloponnes, deren eigene Küsten.
Es ist ein Krieg gegen Griechenlands Zivilbevölkerung, eine zynische Aufrechnung der Ressourcen. Da Athen an Bevölkerung und Reichtum Sparta überlegen ist, wird es, so rechnet Perikles wohl, den Vernichtungskampf länger durchhalten als der Rivale.
Das erste Kriegsjahr vergeht so, wie Perikles es vorausgesehen hat: Attika brennt, einige Küstenstädte des Peloponnes aber auch. Die Bauern aus Athens Umland leiden mehr als die Ruderer und Ausrüster der Flotte. Klientelpolitik also selbst hier. Und damit sich die Wut der Ausgeplünderten nicht äußern kann, verhindert Perikles angeblich (man weiß heute nicht genau, wie) jegliche Zusammenkunft der Volksversammlung. Streng genommen hat Athen also aufgehört, Demokratie zu sein.
Das zweite Jahr beginnt ähnlich: Die Athener drängen sich in ihrer Stadt und geben ihr Land dem heranrückenden Feind preis, die Spartiaten verwüsten Attika, derweil rüstet sich im Piräus Athens Flotte abermals zur Plünderungsfahrt gen Süden.
Die Seuche von 430 v. Chr. aber durchkreuzt die Strategie des Perikles. Zwar lässt Perikles selbst dann noch rüsten, als die Athener schon in Blut und Galle sterben. Zwar stechen schließlich 100 Trieren in See, um Spartas Verbündete auf dem Peloponnes zu verheeren. (Die Schiffe werden aber auch die Seuche zu den im Feindesland ausharrenden Athener Belagerungstruppen tragen.) Doch Perikles ist nicht länger Herr der Situation.
Und jetzt, da er seinen Anhängern keine Vorteile mehr verschaffen kann, löst sich seine Macht einfach auf.
THUKYDIDES IST seltsam schweigsam, wenn er den Sturz des Perikles beschreibt. Doch so viel ist sicher: Wut und Hass erfassen die Athener, Verzweiflung über die Seuche und Angst vor dem Krieg, für den sie vor kurzem noch freudig gestimmt haben. Zum ersten Mal seit zwei Generationen droht den hochmütigen Athenern eine Niederlage. Drohen militärische Entmachtung, Tributzahlungen, Geiselauslieferung, vielleicht gar Vertreibung und Versklavung.
Ein Schuldiger wird gesucht.
Perikles versucht, die Volksversammlung zu beeinflussen, doch es gelingt ihm nicht. Zu groß ist inzwischen der Hass auf ihn, zu tief die Verachtung. „Du, der Satyrn Regent, warum willst du denn nicht / selber greifen zum Speer, statt über den Krieg / nur zu reden vor uns mit des Wortes Gewalt, / als wärst du ein Feigling wie Teles? / Und schärft einer nur am Wetzstein den Dolch, / so klappern dir schon die Zähne im Mund“, höhnt der Dichter Hermippos.
Das Volk versammelt sich. Gesandte werden nach Sparta geschickt, sie sollen Frieden erbitten. Doch die Spartiaten wollen die Athener sterben sehen.
Irgendwann im Herbst des Jahres 430 v. Chr. haben Athens Bürger genug. Wer sich noch auf den Beinen halten kann, schleppt sich zur Pnyx – einem halbrund abfallenden Hang gegenüber der Akropolis, auf dem sich das Volk zur Versammlung trifft. Auf einer Rednertribüne präsentiert sich Perikles. Er appelliert an den Gemeinsinn der Athener und fleht sie an, nicht zu verzweifeln. Vergebens.
Der Rat der 500 bringt den Antrag ein, den Strategen Perikles noch vor Ablauf seines Amtsjahres abzulösen. Die Abstimmung erfolgt offen, per Handzeichen. Und welche Demütigung: Perikles, Stratege seit 13 Jahren, wird mitten im Krieg abgesetzt.
Schlimmer noch: Einige Tage oder Wochen später steht er sogar vor Gericht. 1500 Richter haben darüber zu befinden, ob Perikles der Unterschlagung öffentlicher Gelder schuldig ist. Er hält eine der letzten Reden seines Lebens. Sechs Minuten – bis die Wasseruhr abgelaufen ist. Sechs Minuten Rechtfertigung für einen Krieg und für drei Jahrzehnte Politik.
Doch er kann die Richter nicht überzeugen. Sie verurteilen ihn zu einer hohen Geldstrafe, angeblich entgeht er nur knapp der Hinrichtung.
Perikles aber gibt nicht auf. Schließlich geht es nicht nur um Krieg und Frieden, um die Konsequenzen seiner lebenslangen Politik, sondern um etwas, das ihm vielleicht stets das Wichtigste überhaupt ist: um seinen Ruhm.
Also kandidiert er, die Seuche wütet noch immer in Athen, unbeirrt bei der nächsten Wahl wieder für das Strategenamt. Und das Volk von Athen, jener unberechenbare, launische, gefährliche Herrscher, der ihn im Herbst 430 v. Chr. abgesetzt, gedemütigt und beinahe zum Tode verurteilt hätte, erweist ihm im darauf folgenden März wieder seine Gunst. Und wählt Perikles erneut zum Strategen.
Doch seine Zeit ist abgelaufen. Der Politiker lebt noch lange genug, um Zeuge zu werden, wie seine beiden ältesten Söhne der Seuche erliegen. Dann, im September 429 v. Chr., kommt das tödliche Fieber auch zu ihm.
25 JAHRE LANG DAUERT das von Perikles provozierte Morden zwischen Athen und Sparta daraufhin noch an. Die Seuche verschwindet ebenso rätselhaft, wie sie aufgekommen ist. Die Athener kämpfen weiter. Sie verheeren die Küste des Peloponnes. Sie plündern in Kleinasien, brennen und morden im östlichen Mittelmeer. Ringen schließlich sogar um die Gunst des verachteten Perserkönigs. Und sie schicken eine riesige Flotte nach Sizilien, um das mächtige, mit Sparta verbündete Syrakus einzunehmen.
Dies aber ist das letzte Abenteuer der Großmacht Athen. Denn Syrakus lässt sich nicht niederringen. Athens Männer sterben in Sizilien oder enden als Sklaven in den Syrakusaner Bergwerken. Im Jahr 404 v. Chr. kapituliert Athen, ausgeblutet und von den Bündnispartnern verlassen, vor den Spartiaten.
Tatsächlich aber gibt es im Peloponnesischen Krieg keinen Gewinner. Athen verliert den Seebund und damit das Fundament seiner Macht. Niemals wieder wird es Griechenland militärisch dominieren.
Doch auch Sparta ist am Ende: eine überforderte Macht, zu schwach, um Hellas zu ordnen. Andere Poleis werden sich erheben – Korinth etwa oder Theben –, und der Krieg der Griechenstädte untereinander wird sich noch gut 70 Jahre lang hinziehen.
Schließlich werden erst Makedoniens Könige dem Kampf ein Ende machen – und zugleich der Kultur des klassischen Griechenland (siehe Seite 128).
Athen wird, als Stadt, über all den Wirren niemals zerstört, seine Bürger werden niemals versklavt. Der Wunderbau auf der Akropolis bleibt bestehen, und auch der Ruhm seiner Philosophen. Athen wird zur Schule, zu einem geistigen Epizentrum der antiken Welt – und bleibt dies selbst dann noch, als in Rom längst die Kaiser über das Mittelmeer und weit darüber hinaus herrschen und Griechenland unterworfen haben.
Im Jahrhundert nach dem Peloponnesischen Krieg endet die Epoche der Poleis und der Demokratie. Die makedonischen Könige, später die römischen Imperatoren, lassen keinen Platz mehr für autonome, freie Stadtstaaten.
Es werden zwei Jahrtausende vergehen, ehe das Ideal der Demokratie – symbolisiert durch Athen zu seiner Glanzzeit zwischen dem Sieg von Marathon und dem Prunk des Perikles – wieder seine machtvolle Wirkung entfaltet.
THUKYDIDES, der trotz aller Parteilichkeit beste Chronist des Perikles und, betrachtet man die Wirkung seines Werkes, einflussreichste Historiker der Weltgeschichte, wird nach der Seuche und dem Tod des Politikers selbst zum Akteur im Peloponnesischen Krieg. Im Frühjahr 424 v. Chr. wird er zum Strategen gewählt. Doch im darauf folgenden Winter verliert er in der Nord-Ägäis die Stadt Amphipolis an die Spartaner. Das Volk von Athen bestraft diese Niederlage mit 20 Jahren Verbannung.
Sein Exil führt ihn zu Verbündeten und Gegnern Athens. Niemand beobachtet diesen Krieg genauer als er – und schreibt alles Bemerkenswerte nieder. So wird aus dem gescheiterten Feldherren ein Chronist des Krieges. Sein Stil ist sperrig: Nicht das menschliche Drama, sondern die Lehre aus der Geschichte will er darstellen. Und gerade dies, seine genaue Beobachtung und Beurteilung von Politik und Kriegsführung, findet noch heute Bewunderer und Nachahmer.
Thukydides erlebt die Niederlage seiner Heimatstadt irgendwo im Exil – das lässt sich aus einigen Sätzen in seinem Bericht herauslesen. Doch sein Werk und seine Person umgibt ein Geheimnis. Vielleicht ist er nach Kriegsende zurückgekehrt, aber Spuren hinterlässt er in Athen nicht mehr. Manche antike Chronisten berichten, er sei ermordet worden; andere behaupten, er sei bei einem Schiffbruch ertrunken.
Sein Geschichtswerk – für das kein Titel überliefert ist – hat er wohl nie vollenden können. Seine Darstellung endet nicht mit Athens Niederlage, sondern bricht bei der Beschreibung eines Kriegszuges sechs Jahre davor ab – mitten im Satz: „Nachdem er zuerst nach Ephesos gekommen war, brachte er ein Opfer dar für Artemis …“